Von Stefan Otto
Über Jahrzehnte konnte die deutsche Justiz nicht der historischen Tatsache gerecht werden, dass der systematische Massenmord in den Konzentrationslagern der Nazis nicht allein durch einzelne, wenige Haupttäter, sondern nurmit Unterstützung vieler tausender Mittäter vonstatten gehen konnte. Es galt stets der sogenannte Einzeltatnachweis,wonach ganz konkreteHandlungen derAngeklagten zu belegen waren, die direkt zum Tode ihrerOpfer führten. EinNachweis, der nur allzu selten zu erbringenwar und, wenn überhaupt,meistens nur durch unwiderlegbare Zeugenaussagen einzelner KZ-Überlebender zustande kommen konnte.
Dabei wurde, wie die Doku zeigt, durch den Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer der juristische Grundstein für eine andere Rechtsauffassung bereits in den 1960er-Jahren gelegt. Bauer brachte in den Frankfurter Auschwitz-Prozessen 1963 zum ersten Mal einschlägig Angeklagte wegen Beihilfe zum Mord vor ein deutsches Gericht. Zu einer
Prozessflut, die nun vorstellbar gewesenwäre, kames damals jedoch nicht. ImGegenteil: die Strafverfolgung von NS-Verbrechern nahm danach sogar ab.
Fritz Bauer (1903-1968) ist mittlerweile zum Filmhelden geworden. Gert Voss, Burghart Klaußner und Ulrich Noethen haben ihn in den Jahren 2014 bis 2016 in den Kinofilmen „Im Labyrinth des Schweigens“ und „Der Staat gegen Fritz Bauer“ sowie der TVProduktion „Die Akte General“ verkörpert.
Wo der Spielfilm endet
Sabine Lamby und Cornelia Partmann,die zusammen mit Isabel Gathof nun „Fritz Bauers Erbe“ drehten, warenmit ihrer Produktionsfirma naked eye selbst an „Im Labyrinth des Schweigens“ beteiligt. „Der erste Spielfilm, der diese Fritz-Bauer-Welle imKino gestartet hat“,wie Gathof betonte.
„Die beiden wollten im Anschluss damals schon einen Dokumentarfilm produzieren, der dort beginnt,wo der Spielfilm endet“, berichtete die Hanauerin in Mannheim.
„Wir mussten einen langen Atem haben“, erläutert Gathof, denn der Gerichtsprozess, den sie zuerst für den Film verfolgen wollten, wurden bereits nach wenigen Tagen wegen Verhandlungsunfähigkeit des 95-
jährigen Angeklagten, eines ehemaligen SS-Wachmannes, abgebrochen.
„Da hatten wir eigentlich erst begonnen“, bedauert sie, „und hingen dann eineWeile in der Luft“. Im Zentrumihres Films steht neben der Vorgeschichte um Fritz Bauer nun der Hamburger Prozess gegen den ehemaligen SS-Wachmann Bruno Dey, der im Konzentrations- und Vernichtungslager Stutthof eingesetzt worden war.
In den Kriegsjahren 1939 bis 1945, als es in Betrieb war, waren dort insgesamt rund 3.000 SS-Männer stationiert, zumMord in 5322 Fällen zu zwei Jahren Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt, weil er zum Zeitpunkt der Taten noch minderjährig gewesen war. In der Anklageschrift wurden ihm keine konkreten Handlungen vorgeworfen, doch sei er schon durch seine Zugehörigkeit zur Wachmannschaft „ein kleines Rädchen in der Tötungsmaschine des Konzentrationslagers“ gewesen.
Neue Rechtsauffassung
„Ich war da vor Ort“, berichtete Gathof, die in Hanau das Unternehmen Feinshmeker Film leitet und zuletzt etwa Dokumentationen über den jüdischen Maler Moritz Daniel Oppenheim, den Alten Jüdischen Friedhof in
München oder das ehemalige Hanauer Kino Central realisiert hat. „Die Bilder in Stutthof habe alle ich gedreht.“ Ihr Film „Fritz Bauers Erbe“ zeigt anschaulich, wie sich Bauers angemessener
alter Ansatz als neues Prinzip der Rechtsauffassung in Deutschland etablieren konnte.
Von Manfred Ofer
Wasmacht esmit einemMenschen, wenn er entwurzelt wird und darob seine Hoffnung verliert? Eine Frage, mit der sich Annette Dorothea Weber in ihrem neuen Dokumentarfilm auseinandergesetzt hat. „Es kommt darauf an das Hoffen zu lernen“ über die Folgen des Braunkohletagebaus in der Lausitz hatte im Cinema Quadrat Premiere.
„Der Tagebau hat sich mittlerweile auch bis zu uns hindurchgefressen.“ Die ernste Stimme eines Mannes begleitet die Aufnahmen, die man auf der Leinwand im Cinema Quadrat sehen kann. Eine Landschaft, die einst aus Wald und Wiesen bestand und die jetzt weitgehend abgeholzt und von Gräben durchzogen ist. In den Kratern hat sich wenig einladendes Brackwasser gesammelt. Der Anblick erinnert an eine dystopischeWelt, an Wunden, dieman in einen Körper geschlagen hat. Der Kadaver,wennman sowill, befindet sich in der Lausitz im Osten Deutschlands.
In der Grenzregion zumpolnischen Nachbarn spielt der Braunkohleabbau seit Generationen eine gewichtige Rolle. Viele Menschen haben in den Gruben ihr Brot verdient und identifizieren sich mit der Arbeit, die
ihnen das ermöglicht. Doch die Kohle brachte nicht nur das Geld in die Lausitz, sondern säte auch Zwietracht unter Nachbarn und Hoffnungslosigkrit über Generationen, sie traumatisierte
viele Menschen. Annette Dorothea Weber hat versucht, möglichst viele Stimmen einzufangen. Vor diesem Hintergrund reiste sie in vergangenen drei Jahren immer wieder in die Lausitz, um mit den Menschen zu sprechen. Die Regisseurin hat selbst familiäre Bindungen in Ostdeutschland. Das Schicksal der Bevölkerung, die in der Lausitz immerwieder von Umsiedlungen betroffen
ist, habe sie nichtmehr losgelassen. „Über Hoffnung wollten viele Menschen gar nicht erstmitmir sprechen“, sagt sie. Die seelischen Verletzungen seien zu einemTeil der Identitätgeworden.
„Der Auslöser für mein Interesse war ein Zeitungsartikel, den mir ein Freund geschickt hat“, erinnert sie sich. Das sei 2019 gewesen. Es habe ieler Begegnungen gebraucht, um
dieGrundlage für dieDreharbeiten zu schaffen: Vertrauen. „AmAnfang war ich doch sehr verwundert über das,was ich über die Schicksale erfahren habe“, macht Weber deutlich. „In Westdeutschland sind die Folgen des Tagebaus viel präsenter in den Medien.“ Dabei seien in der Lausitz 130 Dörfer und drei Friedhöfe abgerisse und die Menschen umgesiedelt worden, um Braunkohle fördern zu können.
Das „braune Gold“ hat sich, der Geschichte vom König Midas gleich, für viele hier in einen Fluch verkehrt.
Eine Pfarrerin, die sich um die Seelen ihrer Gemeinde kümmert, spricht von tiefen Traumata, die mit der Machtlosigkeit der Betroffenen einhergehen. Von älteren Menschen, die an gebrochenemHerzen sterben,weil
sie die Heimat ihrer Kindheit aufgebenmussten.„Ein Paar kamin der Urne nach Mühlrose auf den Friedhof zurück“, erzählt sie. Eine Frau aus der sorbischenMinderheit, die seit Generationen in der Region lebt, liest aus ihrem Tagebuch Erinnerungen an die Zeit vor der Umsiedelung vor.
Auch die Pfarrerin,mit der Annette Dorothea Weber in ihrem Film spricht, gehört der slawischen Volksgruppe an, die in ihremFilmmit ihren
Festen und bunten Trachten vorgestellt wird. Es ist weder eine Klima-Doku noch ein Heimatfilm. Es ist eine Bestandsaufnahme, die beides verbindet und zutiefst menschlich am Puls ist. Und das berührt.
Film ist Kunst. Modern. Zeitgenössisch. Kreativ. Eine Kunstform, die ganz neue Weiten eröffnen kann.
Aber auch ein fertiger Film kann zum Medium in einem neuen Kunstwerk werden.
Für unser eigenverantwortliches Projekt im FSJ Kultur organisieren und leiten wir, Emma Bärenz (Cinema Quadrat) und Ina Behrends (Kunsthalle Mannheim) mit Unterstützung von Marie Back (Cinema Quadrat), diesen Workshop, in welchem 35mm-Kinofilmrollen analog gestaltet werden, um ein neues cineastisches Kunstwerk entstehen zu lassen. Kunsthistorische Hintergründe, Inspiration in der Kunsthalle Mannheim, eigenes händisches Arbeiten mit echten Filmrollen in den Ateliers und somit die Entstehung eines gemeinsamen neuen Werkes mit originalem Kinoerlebnis im Cinema Quadrat erwarten euch in unserem zweitägigen Workshop.
Der Workshop findet am Samstag, den 08. Juli 2023, von 10-16 Uhr in der Kunsthalle Mannheim und am Sonntag, den 09. Juli 2023, von 12-14 Uhr im Cinema Quadrat statt. Eine Teilnahme ist nur ab 18 Jahren möglich. Die Teilnahme ist kosten- und eintrittsfrei. Die Anmeldung muss an kinoreifekritzeleien(at)web.de bis zum 30.06. erfolgen (Teilnehmendenanzahl begrenzt). Bei Fragen bitte auch an diese Adresse wenden.
„Kinoreife Kritzeleien – Kunst mit Filmrollen“ ist ein Projekt im Rahmen des Programms PUSH DICH! Der Baden-Württemberg Stiftung. Wir bedanken uns bei der Baden-Württemberg Stiftung und unseren Kooperationspartnern der Kunsthalle Mannheim und dem Cinema Quadrat e.V. für die Unterstützung..
>m Freitag, 16. Juni, begrüßt Cinema Quadrat zwei Filmemacher: Matthias Meyer und Alexander Rischer stellen ihren Dokumentarfilm "The Ballad of George Barrington" vor. Ich freue mich, wenn Sie diese Veranstaltung ankündigen!
George Barrington war ein Meister seines Faches, der mit höchster Kunstfertigkeit sein Handwerk vollzog: Er war Taschendieb im London des späten 18 Jahrhunderts und eine Legende mit größter Bekanntheit. Mehrmals wurde er festgenommen, mehrmals kam er wieder frei, er bewegte sich in höchsten Kreisen - und hat diese auch gerne bestohlen. Und nach seiner Verbannung nach Australien wurde er dort tatsächlich höherer Polizeibeamter! Die Regisseure Matthias Meyer und Alexander Rischer haben in jahrelanger Arbeit ihren Dokumentarfilm "The Ballad of George Barrington" erschaffen, in dem sie die Lebensgeschichte dieser faszinierend schillernden Persönlichkeit nachgehen und auch ein Bild seiner Zeit schaffen. Weltweit suchen sie nach Spuren von George Barrington, und sie blicken hinter den Mythos, der sich um ihn webt: Unter seinem Namen sind damals eine Menge Lebens- und Reiseberichte erschienen, die aber tatsächlich kaum von ihm selbst stammen...
Über ihre akribische Beschäftigung mit Barrington und über ihren Film sprechen die Regisseure Matthias Meyer und Alexander Rischer am Freitag, 16. Juni, um 19:30 Uhr im Cinema Quadrat.
Von Stefan Otto
Entweder Huren oder Nonnen, Gattinnen oder Geliebte seien die Frauen imMännerkino, erklärte die französische Filmemacherin Agnès Varda. Dieses Zitat stand am Anfang des 36. Mannheimer Filmsymposiums im Cinema Quadrat, das sich unter demTitel „Female Gaze“ auf die Suche nach einerweiblichen Perspektivemachte. „Die Frauen sind es leid, dass die Frauenbilder in den Filmen, die uns eit 50 Jahren angeboten werden, sehr oft Klischees und Stereotypen reproduzieren“, so die Autorin und Regisseurin im vorzitierten Interview weiter, das, wohlgemerkt, bereits aus dem Jahr 1978 stammt. „Das Frauenbild im Kino der Gegenwart ist im Wandel“, erkannte Varda damals jedoch. „Dieser Wandel wird von Frauen angeführt, von Drehbuchautorinnen und von Regisseurinnen. Wenn Frauen Drehbücher schreiben und wenn sie darüber hinaus noch Regie führen, verwirklichen sie einen Blick, eine Vision, eine Empfindsamkeit, die doch spürbar anders ist, als die der Männer.“
Ganz überwiegend von Frauen, nicht nur Autorinnen und Regisseurinnen, sondern darüber hinaus auch in vielen weiteren Funktionen hinter der Kamera, stammten denn auch die Filme, die bei dem dreitägigen Symposium gezeigt und erörtert wurden. Verschiedene, bisweilen sehr persönliche animierte Kurzfilme von Regina Pessoa,Veronica Salomon oderMartina Scarpelli sowie die Langfilme „Titane“, frankobelgischer Körperhorror von Julia Ducournau, das deutsche Rassismus- und Kampfsport-Drama „Nico“ von Eline Gehring und Sara Fazilat oder „Carol“, der einzige von einemnicht- weiblichen Regisseur, dem schwulen US-Amerikaner Todd Haynes.Es ist die Verfilmung des gleichnamigen Liebesdramas, das Patricia Highsmith unter Pseudonym und zunächst unter dem Titel „Salz und sein Preis“ veröffentlicht hat. Mit Cate Blanchett in der Titelrolle und Rooney Mara als ungleich jüngere Therese, deren lesbische Beziehung in den homophoben 1950er Jahren vomKampf umUnabhängigkeit und die selbstbestimmte Lebensweise geprägt ist.
Laut der Mainzer Filmwissenschaftlerin Lioba Schlösser ist es eines der erfolgreichsten und vor allem beim queeren Publikum beliebten lesbischen Liebesdramen der vergangenen 20 Jahre, in erster Linie wegen des romantischen und geradezu verklärenden Blicks der beiden Hauptcharaktere aufeinander, mit dem sie sich ansehen und anhimmeln. „Blicke fungieren als Interaktion, Kommunikation und Dialog über den gesamten Plot hinweg und bilden damit augenscheinlich den Kern des gesamten Films“, so Schlösser.
Im Zentrum des gehaltvollen Symposiums stand jedoch fraglos das „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ von Céline Sciamma (Buch und Regie), die derzeit so etwas wie die Galionsfigur des „Female Gaze“ bildet.
Die 44-jährige französische Autorenfilmerin erzählt in ihrem Historiendrama von der jungen Malerin Marianne und ihrem Modell Héloise, 1770 auf einer einsamen Insel vor der rauen bretonischen Küste.
Während gemeinsamer Spaziergänge kommen die beiden sich näher, und als dieMalerin ihrModellmit den Augen einer Liebenden zu betrachten beginnt, verwandelt sich auch ihre Darstellung der jungen Frau auf der Leinwand. Sciamma, die in der Rolle des Modells die Schauspielerin Adèle Haenel, eine Protagonistin der französischen MeToo-Bewegung besetzte, bezeichnet ihren Film selbst als „ein Manifest des weiblichen Blicks“ und kennzeichnet ihn damit als ausdrücklicheReaktion auf den dasKino seit jeher dominierendenmännlichen Blick.
Sehen und gesehen werden ist mehr noch als in „Carol“ das Thema des sensibel intimen Films, in dem Männer kaumauftreten, ihreVorherrschaft jedoch stets spürbar bleibt. Dabei dekonstruiert Sciamma, wie in Mannheim die Filmkritikerin Esther Buss ausführte, das herkömmliche Bild vonMalerin und Muse, indemsie das Verhältnis der beiden Frauen als eine kreative, beflügelnde Begegnung in Szene setzt, durch die die Malerin sich als Künstlerin erst wirklich findet, während Héloise zunehmend Mitbestimmung über ihr eigenes Abbild gewinnt.
Um den „Female Gaze“ in sechs Vorträgen, fünf Filmen und vier Diskussionsrunden herauszuarbeiten, ging das Symposiumwie die Filmwissenschaft von einer männlichen Ästhetik oder einem maskulinen Blick aus, der besonders das einflussreiche Hollywood-Kino von Anbeginn bis heute prägt und Frauen vorwiegend als Objekte versteht, anstatt sie als eigenständige und gleichwertige Subjekte zu inszenieren. Als theoretische Initialzündung für die Auseinandersetzung mit dem Thema gilt nach wie vor der bereits 1975 veröffentlichte und bis heute viel beachtete Aufsatz „Visuelle Lust und narratives Kino“ der feministischen britischen Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey. Eine Filmtheorie, wonach Frauen im Film ganz überwiegend Objekte des Geschehens, des Voyeurismus im Kino oder der Machtausübung vor und hinter der Kamera sind.
Der resultierende Ruf nach einem neuen „weiblichen Blick“ fordert dabei nicht den bloßen Austausch von Positionen oder Geschlechtern, also neue weibliche Helden wie Wonder Woman und Lara Croft, sondern verlangt danach, die bestehende Blickordnung aufzubrechen, bestehende Machtverhältnisse zu verschieben oder wenigstens sichtbar zu machen, bislang unbeleuchtete Flecken in den Vordergrund zu rücken und diejenigen,
die heute als normative Vorstellungen auftreten, abzudunkeln.