Zirkus als Familienunterhaltung mit Menschen, Tieren, Sensationen? Nein: Die Filme unserer Reihe „Zirkus bizarr!“ zeigen Zirkus als groteskes Spiegelbild, als absonderliche Gegenwelt und als Metapher für den Irrwitz der Gesellschaft. Kurz: Zirkus als ein bizarr andersartiges, ganz eigenes Universum, in dem alles passieren kann, weil alles möglich ist – und dieses alles hat wahnsinnig viel mit der Wirklichkeit zu tun.
Die Sensationsgier und die Definition von „Norm“ bzw. „Abnorm“ im Blick auf Zirkusdarbietungen verraten viel über das Publikum und die Gesellschaft dahinter: In Reaktion auf welche (film)geschichtlichen Hintergründe wurden die Handlungen erdacht und wie schauen wir aus heutiger Perspektive auf diese Filme? Wir wollen es mit Ihnen in Filmeinführungen und/oder Filmnachgesprächen erforschen.
Der Mann, der die Ohrfeigen bekam
(He Who gets Slapped]
USA 1924. R: Victor Sjöström. D: Lon Chaney, Norma Shearer, John Gilbert. 75 Min. Stummfilm mit Livemusik. 35mm-Projektion. FSK: k. A.
Paul Beaumont ist am Ziel seiner wissenschaftlichen Forschungen: Er stellt seine Ergebnisse an der Akademie vor. Doch Baron Regnard, sein reicher Gönner, hintergeht ihn und gibt Beaumont der Lächerlichkeit preis. Die Wissenschaftler lachen ihn aus, Regnard ohrfeigt ihn – Jahre später steht Beaumont als Clown im Zirkuszelt und wird zum Vergnügen des Publikums geohrfeigt. Doch wieder taucht der schurkische Baron Regnard auf, er will die von Beaumont verehrte Kunstreiterin heiraten…
Lon Chaney, „der Mann mit den tausend Masken“, war ein Star des Stummfilmkinos, berühmt für seine Darstellungen grotesker, gequälter Figuren wie DER GLÖCKNER VON NOTRE DAME (1923) oder DAS PHANTOM DER OPER (1925). Hier brilliert Chaney als melodramatischer Clown – ein in jeder Hinsicht erstaunliches Stummfilm-Meisterwerk.
Einführung: Marie Back, Harald Mühlbeyer
Stummfilm mit Live-Musikbegleitung von Jens Schlichting
Mi. 18.10.2023, 19:30 Uhr
Freaks
USA 1932. R: Tod Browning. D: Wallace Ford, Leila Hyams, Olga Baclanova, Henry Victor, Harry Earles, Daisy Earles. 64 Min. EnglOmdtU. FSK: 16
Hans, als Kleinwüchsiger Teil einer Kuriositätenshow, ist mit der ebenfalls kleinwüchsigen Frieda verlobt, verliebt sich aber in die schöne Trapezkünstlerin Cleopatra. Die verspottet ihn – doch nachdem sie von Hans‘ Reichtum erfährt, fasst sie zusammen mit Muskelmann Hercules einen perfiden Plan: Sie heiratet Hans, um ihn dann zu vergiften. Hans erkennt ihre böse Natur. Er und seine Truppe, ohnehin täglich zum Gespött des Publikums ausgestellt, üben Rache.
Tod Browning wollte seinen Film möglichst authentisch erzählen: Echte Kleinwüchsige, Amputierte, Deformierte in einem Hollywoodfilm zu zeigen, noch dazu in Hauptrollen, war ein Tabubruch. Letztlich werden die „Freaks“ als die Vertreter des Humanismus dargestellt, die „Normalen“ als moralisch monströs. In Teilen der USA sowie in Großbritannien war der Film jahrzehntelang verboten. Heute gilt er als Klassiker und Mahnmal für Toleranz gegenüber Andersartigen.
Einführung: Marie Back
Mi. 01.11.2023, 19:30 Uhr
Santa Sangre
MEX/ITA 1989. R: Alejandro Jodorowsky. D: Axel Jodorowsky, Adan Jodorowsky, Blanca Guerra, Guy Stockwell. 123 Min. EnglOmdtU. FSK: 16
Der junge Fenix wächst im Zirkus auf. Er freundet sich mit der taubstummen Alma an. Doch seine Mutter, Trapezartistin, erwischt ihren Mann, den Messerwerfer, mit Almas Mutter, der tätowierten Lady, und übergießt seine Genitalien mit Säure, worauf er ihre Arme abtrennt, bevor er stirbt. Der Sohn Fenix, Zeuge der Geschehnisse, lebt zehn Jahre später traumatisiert in der Psychiatrie, als die Mutter wieder auftaucht. Er tut sich mit ihr zusammen, sowohl in der Sekte des Heiligen Blutes als auch bei Varietéauftritten als auch bei ihren wahnsinnigen Racheaktionen, bei denen er zum Hand-Werkzeug für seine armlose Mutter wird.
Alejandro Jodorowsky (EL TOPO; DER HEILIGE BERG) mischt in seiner bildgewaltigen Kinokunst Esoterisches, Surreales und Schock. Mit SANTA SANGRE gelang ihm nach mehrjähriger Pause ein grandios-wahnsinniges Comeback, wahrer Psycho-Horror voll Poesie, Schmerz und obskurem Humor.
Einführung: Marie Back
Mi. 13.12.2023, 19:30 Uhr
Das Kabinett des Dr. Parnassus
(The Imaginarium of Doctor Parnassus)
GBR/CAN 2009. R: Terry Gilliam. D: Heath Ledger, Johnny Depp, Jude Law, Colin Farrell, Christopher Plummer, Lily Cole, Tom Waits, Verne Troyer, Andrew Garfield. 122 Min. EnglOmdtU. FSK: 12
Der alte Schausteller Dr. Parnassus hat mit Mr. Nick (Tom Waits als Teufel!) einen Handel geschlossen: Unsterblichkeit gegen seine bald 16jährige Tochter Valentina. Als der charismatische, aber undurchsichtige Tony zu Parnassus‘ Truppe stößt, bietet Mr. Nick eine Vertragsänderung an: Wer zuerst fünf Seelen gewinnt, bekommt Valentina. Denn das Wandertheater von Dr. Parnassus hat etwas Besonderes zu bieten: einen Zauberspiegel, durch den man in seine ganz persönliche Fantasielandschaft eintreten kann; am Ende dieser Reise steht die Wahl zwischen Gut und Böse. Aber eigentlich sind alle hinter Tony her…
Ein überbordendes Bildersog-Spektakel, Kino als Jahrmarkt: Terry Gilliam, der meisterhafte Jongleur von Kinofantasien, schaffte mit diesem Film etwas Unglaubliches. Mitten in den Dreharbeiten verstarb Heath Ledger, doch durch geschicktes Umschreiben des Drehbuchs und perfekte Besetzungscoups geht seine Figur hinter dem Zauberspiegel nahtlos auf Johnny Depp, Jude Law und Colin Farrell über… Und der Film wirkt, als wäre dies alles gewollt!
Einführung: Harald Mühlbeyer
Mi. 24.01.2023, 19:30 Uhr
Mad Circus – Eine Ballade von Liebe und Tod
(Balada triste de trompeta)
ESP/FRA 2010. R: Álex de la Iglesia. D: Carlos Areves, Antonio de la Torre, Carolina Bang. 105 Min. SpanOmdtU. FSK: 18
1937: Im spanischen Bürgerkrieg zwingen Republikaner die Beschäftigten eines Zirkus, gegen die Franco-Truppen zu kämpfen. Ein Clown im Kostüm metzelt die Faschisten mit einer Machete nieder, bis er hingerichtet wird, vor den Augen seines Sohnes Javier. 1973: Javier ist der traurige Clown in einem Wanderzirkus. Ein blutiges Eifersuchtsdrama führt Javier in einen mörderischen Kampf mit seinem Kollegen und Rivalen, dem brutalen Sergio, um die schöne Akrobatin Natalia, inklusive einer Trompete als Waffe, einem Biss in Francos Hand, Selbstverstümmelung mit Bleiche und Bügeleisen. Und einem heftigen Showdown auf einem 150 Meter hohen franquistischen Kreuz-Monument.
Zirkus als Metapher für den Machtirrsinn des spanischen Faschismus, schmutziges Mitternachtskino voll blutigem Wahnsinn und grell-makabrem, bitterbös-schwarzem Humor: MAD CIRCUS wurde unter anderem in Venedig für die beste Regie und das beste Drehbuch ausgezeichnet.
Einführung: Harald Mühlbeyer
So. 11.02.2024, 19:30 Uhr