10.01.2023

Der weibliche Blick

Am 22.12.2022 berichtete die Rheipfalz über das 36. Mannheimer Filmsymposium im Cinema Quadrat.

 

Von Stefan Otto

Entweder Huren oder Nonnen, Gattinnen oder Geliebte seien die Frauen imMännerkino, erklärte die französische Filmemacherin Agnès Varda. Dieses Zitat stand am Anfang des 36. Mannheimer Filmsymposiums  im Cinema Quadrat, das sich unter demTitel „Female Gaze“ auf die Suche nach einerweiblichen Perspektivemachte. „Die Frauen sind es leid, dass die Frauenbilder in den Filmen, die uns eit 50 Jahren angeboten werden, sehr oft Klischees und Stereotypen reproduzieren“, so die Autorin und Regisseurin im vorzitierten Interview weiter, das, wohlgemerkt, bereits aus  dem Jahr 1978 stammt. „Das Frauenbild im Kino der Gegenwart ist im Wandel“, erkannte Varda damals jedoch. „Dieser Wandel wird von Frauen angeführt, von Drehbuchautorinnen und von Regisseurinnen. Wenn Frauen Drehbücher schreiben und wenn sie darüber hinaus noch Regie führen, verwirklichen sie einen Blick, eine Vision, eine Empfindsamkeit, die doch spürbar anders ist, als die der Männer.“

Ganz überwiegend von Frauen, nicht nur Autorinnen und Regisseurinnen, sondern darüber hinaus auch in vielen weiteren Funktionen hinter der Kamera, stammten denn auch die Filme, die bei dem dreitägigen Symposium gezeigt und erörtert wurden. Verschiedene, bisweilen sehr persönliche animierte Kurzfilme von Regina Pessoa,Veronica Salomon oderMartina Scarpelli sowie die Langfilme „Titane“, frankobelgischer Körperhorror von Julia Ducournau, das deutsche Rassismus- und Kampfsport-Drama „Nico“ von Eline Gehring und Sara Fazilat oder „Carol“, der einzige von einemnicht- weiblichen Regisseur, dem schwulen US-Amerikaner Todd Haynes.Es ist die Verfilmung des gleichnamigen Liebesdramas, das Patricia Highsmith unter Pseudonym und zunächst unter dem Titel „Salz und sein Preis“ veröffentlicht hat. Mit Cate Blanchett in der Titelrolle und Rooney Mara als ungleich jüngere Therese, deren lesbische Beziehung in den homophoben 1950er Jahren vomKampf umUnabhängigkeit und die selbstbestimmte Lebensweise geprägt ist.

Laut der Mainzer Filmwissenschaftlerin Lioba Schlösser ist es eines der erfolgreichsten und vor allem beim queeren Publikum beliebten lesbischen Liebesdramen der vergangenen  20 Jahre, in erster Linie wegen des romantischen und geradezu verklärenden Blicks der beiden Hauptcharaktere aufeinander, mit dem sie sich ansehen und anhimmeln. „Blicke fungieren als Interaktion, Kommunikation und Dialog über den gesamten Plot hinweg und bilden damit augenscheinlich den Kern des gesamten Films“, so Schlösser.

Im Zentrum des gehaltvollen Symposiums stand jedoch fraglos das „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ von Céline Sciamma (Buch und Regie), die derzeit so etwas wie die Galionsfigur des „Female Gaze“ bildet.
Die 44-jährige französische Autorenfilmerin erzählt in ihrem Historiendrama von der jungen Malerin Marianne und ihrem Modell Héloise, 1770 auf einer einsamen Insel vor der rauen bretonischen Küste.

Während gemeinsamer Spaziergänge kommen die beiden sich näher, und als dieMalerin ihrModellmit den Augen einer Liebenden zu betrachten beginnt, verwandelt sich auch ihre Darstellung der jungen Frau auf der Leinwand. Sciamma, die in der Rolle des Modells die Schauspielerin Adèle Haenel, eine Protagonistin der französischen MeToo-Bewegung besetzte, bezeichnet ihren Film selbst als „ein Manifest des weiblichen Blicks“ und kennzeichnet ihn damit als ausdrücklicheReaktion auf den dasKino seit jeher dominierendenmännlichen Blick.

Sehen und gesehen werden ist mehr noch als in „Carol“ das Thema des sensibel intimen Films, in dem Männer kaumauftreten, ihreVorherrschaft jedoch stets spürbar bleibt. Dabei dekonstruiert Sciamma, wie in Mannheim die Filmkritikerin Esther Buss ausführte, das herkömmliche Bild vonMalerin und  Muse, indemsie das Verhältnis der beiden Frauen als eine kreative, beflügelnde Begegnung in Szene setzt, durch die die Malerin sich als Künstlerin erst wirklich findet, während Héloise zunehmend Mitbestimmung über ihr eigenes Abbild gewinnt.

Um den „Female Gaze“ in sechs Vorträgen, fünf Filmen und vier Diskussionsrunden herauszuarbeiten, ging das Symposiumwie die Filmwissenschaft von einer männlichen Ästhetik oder einem maskulinen Blick aus, der besonders das einflussreiche Hollywood-Kino von Anbeginn bis heute prägt und Frauen vorwiegend als Objekte versteht, anstatt sie als eigenständige und gleichwertige Subjekte zu inszenieren. Als theoretische Initialzündung für die Auseinandersetzung mit dem Thema gilt nach wie vor der bereits 1975 veröffentlichte und bis heute viel beachtete Aufsatz „Visuelle Lust und narratives Kino“ der feministischen britischen Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey. Eine Filmtheorie, wonach Frauen im Film ganz überwiegend Objekte des Geschehens, des Voyeurismus im Kino oder der Machtausübung vor und hinter der Kamera sind.

Der resultierende Ruf nach einem neuen „weiblichen Blick“ fordert dabei nicht den bloßen Austausch von Positionen oder Geschlechtern, also neue weibliche Helden wie Wonder Woman und Lara Croft, sondern verlangt danach, die bestehende Blickordnung aufzubrechen, bestehende Machtverhältnisse zu verschieben oder wenigstens sichtbar zu machen, bislang unbeleuchtete Flecken in den Vordergrund zu rücken und diejenigen,
die heute als normative Vorstellungen auftreten, abzudunkeln.

21.12.2022

Ein wahrhaft europäisches Projekt im Cinema Quadrat

Am 10.12.2022 berichtete die Rheinpfalz über das Einwandererdrama „Io sto bene –Was amEnde bleibt“ im Cinema Quadrat

 

VON STEFAN OTTO

DerMannheimer Autorenfilmer Yilmaz Arslan steht als einer von drei internationalen Produzenten hinter dem berührenden Einwandererdrama „Io sto bene – Was am Ende bleibt“, das von Italienern in den  eneluxstaaten erzählt. Ein vielsprachiges, wahrhaft europäisches Projekt, das er am Donnerstag im Cinema Quadrat vorstellte.

Antonio und Vito Spinelli sind Cousins aus einem süditalienischen Dorf, in demes nur einen Brunnen und den Dorfplatz gibt. Sonst nicht viel, schon gar keine Arbeit und keine Zukunft. Wir befinden uns in den 1960er- Jahren,als sie sich auf den Weg in die Beneluxstaaten machen, in der Hoffnung, hier ein Auskommen zu finden. Luxemburg liege in Belgien, denken sie fälschlicherweise, bevor sie sich unverhofft durch eine Landesgrenze getrennt sehen.

Antonio, dessen Leben der Film eingehender verfolgt, als das seines Cousins, beginnt als ungelernter Hilfsarbeiter auf dem Bau, bevor er Einwandererdrama „Io sto bene – Was amEnde bleibt“ läuft immehrsprachigen  Original in den deutschen Kinos zumMaurer aufsteigt, in seiner neuen Heimat Luxemburg der Frau fürs Leben begegnet und mit ihrer Unterstützung einen kleinen Malerbetrieb aufbaut.

Was am Ende bleibt“ begegnet der Zuschauer ihm in jungen Jahren, gespielt vom heute 31-jährigen Alessio Lapice, und in alten, verkörpert vom kampanischen Charakterdarsteller Renato Carpentieri.   SeitwenigenMonaten verwitwet, verabschiedet er sich gerade in den Ruhestand, als er einer jungen Italienerin begegnet, die es aus ihrer Heimat ebenfalls in das kleine Großherzogtum verschlagen hat.

Donato Rotunno, der Autor und Regisseur von „Io sto bene“, verrät Yilmaz Arslan, ist wie die Figuren seines Films ein Italiener in Luxemburg. Mit seiner Produktionsfirma Tarantula hat er 2004 Arslans Drama „Brudermord“ und 2017 auch seinen bislang letzten Film „Sandstern“ produziert. „Im Gegenzug habe ich jetzt seinen Film koproduziert“, berichtet der Mannheimer, wie es nun zumdritten gemeinsamen Projekt kam.

Der Film, der noch zweimal im Cinema Quadrat gezeigt wird, ist eine luxemburgisch-belgisch-deutschitalienische Koproduktion, an der neben der Luxemburger Tarantula auch deren belgischer Geschäftszweig, die
römische Vivo-Film und Arslans Mannheimer MaxMa Film beteiligt waren.

Yilmaz Arslan, der an der türkischen Mittelmeerküste geboren wurde, im Alter von sieben Jahren nach Deutschland kam, drei Jahre später nach Neckargemünd und schließlich nach Mannheim, hat seine Unternehmergesellschaft“ vor sechs Jahren ausdrücklichmit demZiel gegründet, „junge Filmemacher bei der Stoffund Drehbuchentwicklung bis hin zur Produktion und dem Verleih zu begleiten“.

Bisher wurde noch nicht allzu viel daraus. Lediglich zwei Kinofilme, „Sandstern“ und nun eben „Io sto bene“, sind als echte MaxMa-Produktionen zu verzeichnen. Dabei sind beide so gelungen, so fantasievoll und verhalten humorvoll, wie glaubhaft bis hässlich realistisch, dass man sich doch gerne einen größeren Output der Produktionsfirma wünschen würde, die in den Mannheimer Quadraten ansässig ist.

„Io sto bene“ (deutsch: Mir geht's gut) verfügt über Qualitäten, die durchaus an Edgar Reitz' „Heimat“- Trilogie anknüpfen können, einmal abgesehen von deren unerreichbarem Umfang. Rotunnos Inszenierung, seinem Drehbuch, an dem auch Arslan mitgeschrieben hat, und seinen Darstellern, darunter auch Marie Jung, die Tochter des wohl bekanntesten Luxemburger Schauspielers André Jung, gelingt es, plastische Charaktere zu gestalten, mit denen man immerhin über ein halbes Jahrhundert hinweg gerne mitgeht, auch wenn man nicht alle ihre Entscheidungen teilen mag.

Den Film im mehrsprachigen Original mit italienischen, luxemburgischen, deutschen, französischen und englischen Dialogen nicht wie üblich zu synchronisieren, sondern nur untertitelt in die deutschen Kinos zu
bringen, sei ein bewusster künstlerischer Beschluss gewesen, berichtet Arslan. „Ich finde es sehr wichtig, dass die Vielsprachigkeit bewahrt bleibt“, erklärt er, auch wenn er damit bei Geldgebern und beteiligten Sendern oftmals auf Widerstand stoße. Dass er an „Io sto bene“ wenigstens im Hintergrund mitgewirkt hat, vermeint man dem Ergebnis anzusehen, so gut fügt sich das Drama in Yilmaz Arslans Filmografie von „Langer Gang“, 1994 in Neckargemünd entstanden, bis „Sandstern“ ein.

 

21.12.2022

Wenn Frauen anders schauen

Am 11. Oktober 2022 berichtete der Mannheimer Morgen über das 36. Mannheimer Filmsymposium.

 

Regisseurin Agnès Varda, manchmal auch als „Großmutter der ‚Nouvelle Vague’“ bezeichnet, bringt die Angelegenheit bereits in einem Fernsehinterview von 1978 auf den Punkt. Sie spricht davon, dass ihre männlichen Kollegen lernen müssten, „Frauen nicht in ihre Einzelteile zu zerlegen“. Oder, noch direkter: dass die Herren nicht bloß „einen Po zeigen, der durch die Straßen läuft“. Doch Varda traut den Männern diese Sensibilisierung teilweise auch zu. Sie glaubt, dass deren Blick sich manchmal schon verändert habe.

Dieser „maskuline Blick“, der Frauen  allzu oft zum Lustobjekt herunterstufe.Das besagte Interview, auch über YouTube abrufbar, läuft zu Beginn des 36. Mannheimer Filmsymposiums, das drei Tage lang im Kommunalen Kino Cinema Quadrat stattfindet. Es ist eine Traditionsveranstaltung, in der bei den Dozenten und den ausgewählten Themen lange die berühmten weißen (doch nicht automatisch weisen) alten Männer dominierten.

Diesmal allerdings ist alles anders, denn die Überschrift der kleinen Tagung heißt „Der feminine Blick“ – von dem nun mal in erster Linie Frauen zu berichten wissen. Mit nur einer halben Ausnahme sind weibliche Dozenten eingeladen worden. Auch die Filmvorführungen, die das Programm flankieren, widmen sich vor allem Regisseurinnen und ihren mittlerweile doch recht häufig preisgekrönten Werken.

Am Eröffnungstag wird allerdings noch mal der manipulative „maskuline Blick“ seziert: in „Brainwashed“, einer auch im Rahmen der Berliner Filmfestspiele aufgeführten Dokumentation von Nina Menkes – die im
Grunde ein verfilmter Vortrag der Autorin ist, ergänzt um 175 kurze, manchmal ultrakurze Beispiele aus über 120 Jahren Filmgeschichte. Übrigens waren die Frauen in der Kino- Branche zu Anfang eher mächtiger
als lange Zeit danach, auch wenn der Name Leni Riefenstahl wohl eher außer Konkurrenz läuft. Doch im Mainstreamkino übernahm der „maskuline Blick“ die Vorherrschaft, wie ihn die Feministin Laura Mulvey schon
vor über 45 Jahren konstatiert hat.

Misogynie und Mainstream

Nina Menkes bringt in dieser Hinsicht streng genommen nicht viel Neues, aber die Beweislast, die sie mit den 175 Filmschnipseln vor dem Betrachter auftürmt, ist erdrückend. Insbesondere das Kino à la Hollywood erscheint als großer Unterdrückungsapparat. Im Zuge der „Me- Too“-Bewegung hat das Thema mehr denn je an Dringlichkeit gewonnen, Menkes macht das misogyne Element im Mainstreamfilm, das Frauen zum Objekt verkleinere und ihre Körper fragmentiere, mitverantwortlich für sexuelle Übergriffe im realen Leben. Denn im Film würden die Frauen hinsichtlich der männlichen Begierden häufig willfährig gezeigt: Sie sagten zwar zu Anfang „Nein“ – aber am Ende eben sehr oft „Ja“.Die Argumentation von Nina Menkes ist bisweilen auch ein bisschen edundant und eindimensional. Der erste Vortrag des Symposiums balanciert das Thema feiner aus, gehalten wird er von der Bajuwarin Ursula von Keitz, die Professorin an der Potsdam-Babelsberger Filmhochschule „Konrad Wolf“ ist. Keitz verweist, wie Menkes, auf die strukturellen Schieflagen im Filmgeschäft, die etwa dazu führten, dass ein Regisseur in aller Regel von den Finanziers ein deutlich höheres Budget als eine Regisseurin zu erwarten habe. Doch sie hinterfragt die starre Unterscheidung „femininer/ maskuliner Blick“ – die sich das Publikum ja nicht zu eigen machen müsse. Und sie nennt auch Gegenbeispiele mit starken Frauen auf der Leinwand: Bette Davis etwa, die mit langen Schritten  raumgreifende Dominanz verkörpere. Oder Marlene Dietrich. Und auch Jodie Foster, die im Klassiker „Schweigen der Lämmer“ selbstbewusst den Männerblicken standhalte. Nicht nur betrachtet werde. Sondern selbst betrachte. Während Marlon Brando, jedenfalls in seinen jungen Jahren, auch ein Blickobjekt fürs feminine Kinopublikum gewesen sei.

Veränderter Blickwinkel
Dem tadellosen Vortrag Keitz’ kann höchstens vorgeworfen werden, dass er etwas trocken ist und nur mit ein paar „Screenshots“ aufwartet, mit unbewegten Bildern. Bewegte sind an den drei Tagen des  ymposiums
hinreichend geboten, und auch einen Einblick in die Praxis gibt es, das hat Tradition. In diesem Jahr ist  Kamerafrau Julia Schlingmann dran, die schon im deutschen Serien-Alltag Fuß gefasst hat („SOKO  Stuttgart“, „Schloss Einstein“). Doch ein wahres Abenteuer war die Dokumentation, die sie in Serbien drehte. Wo die Männlichkeit manchmal noch immer „toxisch“ ist und eine Frau hinter der Kamera die Perspektive vollständig verändern kann.

21.12.2022

Die Nazis überlebt

Tanja Cummings zeigt ihre Dokumentation „Zelig“ im Mannheimer Cinema Quadrat

 

„Zelig“ heißt ein älterer, leider etwas in Vergessenheit geratener Film von Woody Allen. „Das Zelig“ aber ist ein neuer Dokumentarfilm von Regisseurin Tanja Cummings. Die Berlinerin begleitete ihn ins Mannheimer Cinema Quadrat.

Der Titel ihrer Doku bezieht sich auf das Münchner „Café Zelig“, das kein reguläres Kaffeehaus, sondern vielmehr ein regelmäßiger Treffpunkt für Holocaust-Überlebende ist. Begründet erstaunlicherweise erst 2016 – mehr als 70 Jahre nach dem Ende desZweiten Weltkriegs –, handelte es sich zunächst nur um eine gewöhnliche Wohnung in Schwabing, in der man einmal wöchentlich zu Kaffee und Kuchen, Musik und Gesprächen zusammenkam. Mittlerweile treffen sich die durchweg hochbetagten „Zeligs“  zu vorgegebenen Zeiten tatsächlich in einem echten Kaffeehaus in der Nähe der jungen Münchner Hauptsynagoge am innerstädtischen Sankt-Jakobs-Platz.

Etwa 1200 bereits unter den Nazis verfolgte Juden lebten noch oder mittlerweile wieder in der Region München, zählt die örtliche Israelitische Kultusgemeinde. Die meisten von ihnen konnten auch nach traumatischen Erlebnissen in der Zeit des Nationalsozialismus offenbar irgendwie in ein geregeltes Leben zurückfinden, Familien gründen und ihren Berufen nachgehen. Zu einem Großteil konnten oderwollten sie sehr lange aber kaum bis gar nicht über ihre Erfahrungen in ihrer Kindheit und Jugend sprechen. Sobald jedoch das gewohnte sozialeUmfeld, der Beruf und die Familie, nichtmehr das Leben bestimmt,
nehmen die Erinnerung und die Beschäftigungmit derVergangenheitwieder einen größeren Raumein.Und so entsteht bei vielen Menschen im Alter erstmals das Bedürfnis, das TanjaCummings zeigt ihreDokumentation „Zelig“ im Mannheimer Cinema Quadrat einst Erlebte nicht mehr zu verschweigen.

„Die haben ja nicht über diese Dinge gesprochen, vielleicht nur mit engsten Freunden oder Verwandten oder vielleicht auch überhaupt gar nicht“, berichtet Tanja Cummings im Cinema Quadrat. Auch Natan Grossmann, einer der eindrücklichen Protagonisten ihres bewegenden Films und uralter Stammgast des „Zelig“, sei erst vor rund einem Dutzend Jahren, als sie mit ihm die Dokumentation „Linie 41“ drehte, überhaupt fähig gewesen, sich zu öffnen. Damalswar sie mit ihm auf den Spuren seiner verlorenen Familie ins polnische Lodz, in das ehemalige Ghetto Litzmannstadt, zurückgekehrt, und ihre Suche kreuzte sichmit der des Sohnes des ehemaligen Nazi-Oberbürgermeisters der Stadt, der hier ein Familiengeheimnis erforschte.

Die Idee, mit Grossmann auch einen Film über das „Zelig“ zu machen, sei entstanden, als „Linie 41“ zumersten Geburtstag des Cafés inMünchen vorgeführt wurde. „Genauer gesagt“, ergänzt Cummings, gehe sie auf den Psychoanalytiker und Initiator des Begegnungsangebots, Joram Ronel, zurück, der sie ermuntert habe, „öfter mal inMünchenund im,Zelig’ vorbeizuschauen“. Bei den anschließenden
Besuchen dort habe die besondere Herausforderung dann darin bestanden, herauszufinden, aufwelcheWeise man am besten davon erzählen könnte. „Auf wen würden wir besonders achtgeben müssen, ihn oder sie nicht zu filmen, keine Fragen zu stellen?“, berichtet die Autorin und Regisseurin.Andererseits: „Wer würde sich verletzt fühlen, nicht befragt zu werden?“ Und zu bedenken gewesen
sei auch, dass es im Café mitnichten immerzu um das Reden und Teilen von grausamen Erlebnissen, Verlusten und Traumata gehe, sondern eben umKaffee und Kuchen und das Leben im Jetzt.

„Wir haben beschlossen, die Dinge geschehen zu lassen und erst im Schnitt die prägnantesten Momente herauszufiltern“, blickt die Dokumentarfilmerin, die im Hauptberuf als Illustratorin arbeitet, auf  die Dreharbeiten und die Nachbearbeitung zurück. „Zudemhattenwir die Vorgabe, so unauffällig wie möglich zu arbeiten, das Programmund denAblauf der Treffen nie zu stören.“ Im Ergebnis bildet das Münchner Café den Ausgangs- und Knotenpunkt des Films, den die Zuschauer vor allem mit den Protagonisten Natan Grossmann und Henry Rotmensch immer wieder verlassen, um ihnen in ihre Wohnungen, an  verschiedene Stationen ihrer Biografien, bis hin ins ehemalige Vernichtungslager Chelmno/Kulmhof, und nicht zuletzt in ihre Erinnerungen zu folgen, die sie anhand von Fotos und Erzählungenwieder lebendig werden lassen. Um danach in die geschützte Geborgenheit des „Café Zelig“ zurückzukehren.

 

21.12.2022

Werner Herzog-Filmschwerpunkt im Cinema Quadrat

Buchvorstellung von Dr. Josef Schnelle

 


Werner Herzog ist einer der bekanntesten Filmemacher, die Deutschland je hatte – und einer der verkanntesten. Er hat gewaltige Filme geschaffen mit gewaltigen Bildern, und er erfährt seit Jahren in den USA mehr Würdigung als in Deutschland. Jüngst feierte Herzog seinen 80. Geburtstag. Mit einem Filmschwerpunkt ehrt im Januar das Cinema Quadrat den Filmkünstler. Als besonderer Höhepunkt der Werner-Herzog-Filmreihe stellt Dr. Josef Schnelle am Montag, 9. Januar, sein im Schüren-Verlag erschienenes Buch "Eine Welt ist nicht genug. Ein Reiseführer in das Werk von Werner Herzog" vor. Die Lesung erfolgt begleitend zur Vorführung von Werner Herzogs Historienfilm "Kaspar Hauser - Jeder für sich und Gott gegen alle" (1974). Schnelle ist in der Region bekannt als Programm-Kurator für Michael Kötz beim IFFMH bis 2019 und beim Festival des Deutschen Films Ludwigshafen. In seinem Buch schlägt er thematische Bögen und kann so die Besondernheiten von Herzogs Filmen herausarbeiten.
Im Filmschwerpunkt zu Werner Herzog zeigt Cinema Quadrat mit "Werner Herzog - Radical Dreamer" das jüngst veröffentlichte dokumentarischen Filmorträt über seine Karriere, zudem laufen fünf seiner Filme, die einen Überblick über sein Schaffen bieten: Neben dem "Kaspar Hauser"-Film steht mit "Nosferatu - Phantom der Nacht" Herzogs zweite Zusammenarbeit mit Klaus Kinski von 1979 auf dem Programm; "Wo die grünen Ameisen träumen" (1984) ist ein poetischer Ökothriller im australischen Outback. In "Grizzly Man" porträtiert Herzog einen Tierschützer, der sich über Jahre in Alaska obsessiv der Lebenswelt von Bären annäherte - und schließlich von ihren gefressen wurde; der Film gilt als Höhepunkt in Herzogs Werk, hat aber nie einen deutschen Verleih gefunden. In "Die Höhle der vergessenen Träumen" zeigt Herzog in 3D die über 30.000 Jahre alten Höhlenmalereien in der Chauvet-Höhle in Südfrankreich - eines der wenigen Beispiele in der Filmgeschichte, in der die dritte Dimension einem Film wirklich überzeugenden Mehrwert schafft.
Die Filmauswahl des Werner Herzog-Schwerpunkts zeigt seine thematischen Motive auf: Natur und Mythos, Rationalität und Erkenntnis, Genie und Wahnsinn, Poesie und ekstatische Wahrheiten. Es sind Filme, die man immer wieder neu entdecken und in denen man einem großen Künstler begegnen kann.

Informationen zur Werner Herzog-Reihe im Cinema Quadrat: https://www.cinema-quadrat.de/filmreihen-specials/80-jahre-werner-herzog/

Informationen zu Josef Schnelles Buch: https://www.schueren-verlag.de/programm/titel/667-eine-welt-ist-nicht-genug.html